Die totgeschwiegene Mehrheit | Schweizer Personalvorsorge
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Aus dem Bundeshaus

Die totgeschwiegene Mehrheit

Bundeshausjournalisten kennen das Problem: Vor Abstimmungen, bei denen das Portemonnaie von uns allen betroffen ist, verlangen Chefredaktoren einen Artikel mit der Frage, welche Bevölkerungsgruppe von einem Ja und welche von einem Nein profitiert.

04.09.2024
Lesezeit: 4 min

In der bevorstehenden Abstimmung zur BVG-Revision am 22. September ist dieses Unterfangen besonders schwierig. Tamedia-Journalist Konrad Staehelin ist dies Ende Juli aber gut gelungen. Er erklärt all die Faktoren, auf die es ankommt, und zitiert Christian Skvor vom Pensionskassenberater Libera: «Eine einfache Berechnungsformel dafür, ob und wie stark jemand von der BVG-Reform betroffen wäre, gibt es nicht.»

So ist es: Der Hauptgrund dieser Intransparenz liegt unter anderem in den grossen Unterschieden des überobligatorischen Teils. Auch lässt sich nicht voraussagen, wie und ob die überobligatorischen Leistungen je nach Abstimmungsergebnis in den Reglementen angepasst werden.

Stille Profiteure

Und doch gibt es eine Bevölkerungsgruppe, von der man ziemlich klar sagen kann, dass sie bei einem Ja uneingeschränkt profitiert: die Kapitalbezüger. Davon gibts immer mehr: «Kapitalbezug bei Pensionierung weiterhin im Trend», konstatiert das Bundesamt für Statistik im Dezember 2023: 13 Mrd. Franken wurden in Form einer Kapital- oder Teilkapitalauszahlung bei Pensionierung ausbezahlt. 79 Prozent mehr als fünf Jahre zuvor; 121 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor.

Gemäss der Neurentenstatistik bevorzugten 2022 nur gerade 44 Prozent die Rente, 37 Prozent bezogen das Kapital, und 19 Prozent entschieden sich für eine Kombination aus beidem. Oder anders gesagt: Nicht einmal die Hälfte aller neuen Rentenbezügerinnen und Rentenbezüger setzt voll auf die Rente. Die Mehrheit wollte mindestens einen Teil des Guthabens ausbezahlt haben.

Von diesen 56 Prozent ist im Abstimmungskampf überhaupt nicht die Rede. Dank höherer Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge könnten sie im Alter ein höheres Kapital beziehen, als wenn die BVG-Revision nicht zustande kommt. Höhere Arbeitnehmerbeiträge verkleinern zwar den Nettolohn, dafür winken höhere Arbeitgeberbeiträge mindestens im gleichen Umfang. Sie sind so etwas wie steuerfreier Lohn. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass beim Kapitalbezug eine einmalige Steuer aus Vorsorge zu entrichten ist, zumal die Pensionskassenrente zu hundert Prozent als Einkommen zu versteuern ist.

Dass diese Bevölkerungsgruppe in der Debatte totgeschwiegen wird, hat auch damit zu tun, dass das linke Spektrum an den zunehmenden Kapitalbezügen keine Freude bekundet. Eliane Albisser vom PK-Netz schriebt in der «Schweizer Personalvorsorge»: «Beim Kapitalbezug kann der Zweck der beruflichen Vorsorge, Ersatz für Wegfall des Einkommens, nicht sichergestellt werden.»

In Art. 37 BVG steht: «Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenleistungen werden in der Regel als Rente ausgerichtet.» Ursprünglich war die einmalige Kapitalabfindung gar nicht vorgesehen gewesen. Die Vorsorgeeinrichtungen konnten den Kapitalbezug erlauben, mussten aber nicht. Längst nicht alle Einrichtungen machten von dieser Möglichkeit Gebrauch. Erst mit der 1. BVG-Revision, die Anfang 2005 in Kraft trat, ist der zwingende Anspruch auf mindestens ein Viertel des Altersguthabens verankert worden. Als Folge des zu hohen Umwandlungssatzes erlauben inzwischen die meisten Vorsorgeeinrichtungen den vollen Kapitalbezug.

Steuervehikel 3a

Noch ein Wort zum steuerbegünstigten Sparen 3a: Bürgerliche Politiker – selten Politikerinnen – starten wiederholt Bemühungen, um den steuerbegünstigten Grenzbetrag der Säule 3a zu erhöhen.
Wie in der Aprilausgabe 2023 berichtet, wollte SVP-Nationalrat Erich Hess mit der parlamentarischen Initiative 20.494 die Grenzbeträge auf 15000 beziehungsweise 45000 Franken erhöhen, was der Nationalrat erstaunlicherweise guthiess, der Ständerat erwartungsgemäss ablehnte. Er begründet die ablehnende Haltung mit den Steuerverlusten, die vor allem die Kantone zu spüren bekämen.

Eine Ausweitung der Säule 3a ist mittlerweile trotzdem mehrheitsfähig geworden. Nicht die Grenzbeträge sollen erhöht werden, dafür die Anspruchsberechtigung. So sollen Personen mit einem AHV-Einkommen Einkäufe in die Säule 3a nachholen dürfen, falls sie das in früheren Jahren aus welchem Grund auch immer verpasst haben. Die Mitte-Fraktion hat die Motion 19.3702 in der Juni-Session 2019 eingereicht. Sie ist inzwischen von beiden Räten gegen den Widerstand der Linken und des Bundesrats angenommen worden.

Mitte August hat nun die nationalrätliche Sozialkommission die Verordnungsänderung konsultiert. Gemäss einer Medienmitteilung empfiehlt sie dem Bundesrat mit 16 zu 9 Stimmen, sich an den Wortlaut und die Begründung der Motion zu halten. Dort steht, nachträgliche Einzahlungen von vergangenen Beitragsjahren würden die Vorsorge derjenigen Personen stärken, «die in jungen Jahren kein 3a-Konto hatten, als selbständigerwerbende Personen die finanziellen Mittel nicht aufbringen konnten oder die mangels AHV-Einkommen nicht einzahlen konnten, insbesondere nichterwerbstätige Mütter».

Das heisst, «Vorsorgelücken» könnten auch rückwirkend ab dem Alter von 25 Jahren geschlossen werden. Der Bundesrat hingegen wollte nur für die letzten zehn Jahre Nachzahlungen erlauben – und dies nur bis zum kleineren Maximalbetrag von derzeit 7056 Franken. Gemäss der Kommissionsmehrheit sollen indessen «alle fünf Jahre möglichst unbürokratisch Einkäufe in die Säule 3a von maximal 35280 Franken getätigt werden können».

Gemäss dem Modell des Bundesrats ist bei der direkten Bundessteuer mit 100 bis 150 Mio. Franken Steuereinbussen zu rechnen. Bei den Kantonen sind es gemäss Schätzungen des Bundes 200 bis 450 Mio. Franken. Die Kommissionsmehrheit scheint damit leben zu können. In der Medienmitteilung heisst es salopp: «Die Kommission nahm zur Kenntnis, dass ihr Modell zu deutlich höheren, jedoch nicht bezifferbaren Steuereinnahmen führt als die Vernehmlassungsvorlage.»

Die Kommissionsmehrheit spricht von Vorsorgelücken. Der Gewerkschaftsbund schreibt jedoch in seiner Vernehmlassungsantwort: «Man muss davon ausgehen, dass der nachträgliche Einkauf in die Säule 3a vor allem zur Steueroptimierung genutzt wird.» Dem mag man kaum widersprechen. Der Autor dieser Zeilen hat stets den vollen erlaubten Betrag in die Säule 3a überwiesen – allein aus steuerlichen Gründen. Für die Vorsorge gibts weiss Gott vielversprechendere Anlagemöglichkeiten als die teuren 3a-Fonds.