Nationalräte wollen Art. 46 BVV2 abschaffen
Ernstzunehmende Kommentatoren sind sich einig: Die gescheiterte BVG-Revision ist auch deren Komplexität geschuldet. Ein Glück, dass der Souverän nicht auch über Art. 46 BVV 2 zu befinden hat.
WeiterlesenAm 18. September 2024 verlangte die grüne Nationalrätin Manuela Weichelt mit der Motion 24.3917 die Einführung von Erziehungs- und Betreuungsvorschriften in der 2. Säule. Einen Tag später folgte ihr SP-Ständerätin Mathilde Crevoisier Crelier mit der Motion 24.3920. Sie will die Care-Arbeit mit Ergänzungs- und Betreuungsgutschriften analog der AHV aufwerten.
Beide Motionen wurden noch vor der BVG-Abstimmung vom 22. September 2024 eingereicht, die die Linken erfolgreich bekämpften, obwohl sie Teilzeitbeschäftigten und damit mehrheitlich Frauen unbestrittene Vorteile gebracht hätte.
Die Zugerin Manuela Weichelt will die Rentenlücke der Frauen «endlich schliessen». Sie erinnert daran, dass Frauen einen Drittel tiefere Renten erhalten als Männer, was einzig auf die 2. Säule der Altersvorsorge zurückzuführen sei. Mehr als jede zehnte Frau müsse direkt nach dem Renteneintritt Ergänzungsleistungen beantragen: «Diese Situation ist unhaltbar.»
Wie die Schliessung der Rentenlücke zu finanzieren sei, lässt Weichelt offen. Vorstellungen darüber hat aber Mathilde Crevoisier Crelier. Die Jurassierin schlägt vor, die Finanzierung über eine dauerhafte Umlagekomponente zentral über den Sicherheitsfonds zu bewerkstelligen.
Sylvia Locher ist Präsidentin des Vereins «Pro Single Schweiz». Bei diesem Thema kriegt sie einen Adrenalinschub. In den Sozialversicherungen gehe es immer nur um Paare und Familien, Witwen, selbst kinderlose, würden immer noch privilegiert. Die Singles hingegen sollen einfach nur zahlen.
Alleinstehende ohne Kinder müssten die Leistungen für Verwitwete sowie hinterbliebenen Konkubinatspartnern mitfinanzieren, obschon die 2. Säule auf einem obligatorischen individuellen Sparprozess beruhe. Das gelte auch für Kinderrenten, die zusätzlich zur Altersrente ausbezahlt würden. Wenn Singles sterben, bliebe ihr Vorsorgekapital grösstenteils in der Pensionskasse.
«Diese Ungerechtigkeit besteht schon seit Einführung des BVG 1985 und wurde nie hinterfragt», moniert die Pro-Single-Präsidentin. Das Parlament habe sich noch nie die Mühe gegeben, die Anliegen der Alleinstehenden zu berücksichtigen. Die Einführung von Erziehungsgutschriften wäre daher nur eine weitere Benachteiligung der alleinstehenden, kinderlosen Menschen in diesem Land.
Auch der Bundesrat hält nichts vom Anliegen der beiden Motionärinnen, allerdings aus anderen Gründen. Gemäss seiner Stellungnahme vom 13. November 2024 wäre eine Änderung der Bundesverfassung notwendig, um die Motionen umzusetzen. Gemäss Bundesverfassung sei die berufliche Vorsorge «eine Versicherung für die Einkommen von Erwerbstätigen». Für Arbeitnehmende sei sie obligatorisch, für Selbständigerwerbende freiwillig. «Personen ohne Erwerbseinkommen sind folglich nicht in der beruflichen Vorsorge versichert.»
Mit der Einführung von Erziehungs- und Betreuungsgutschriften würde ein neues, bisher fremdes Element in die 2. Säule aufgenommen, so der Bundesrat. Sie würden zudem erhebliche Finanzierungs- und Durchführungsprobleme nach sich ziehen.
Wer denkt, man könne in der 2. Säule Erziehungs- und Betreuungsgutschriften à la AHV einführen, hat das System nicht begriffen. In der 1. Säule sind die genannten Gutschriften ein fiktives Einkommen, das den individuellen Konti gutgeschrieben wird. Wegen der Plafonierung der Renten sind sie daher nur teilweise rentenbildend. In der beruflichen Vorsorge hingegen wären die Gutschriften vollständig rentenbildend und müssten lebenslang ausbezahlt werden.
Und siehe da, der Bundesrat entdeckt die Singles. Er schreibt: «Kinderlose Personen mit tiefen Einkommen müssten beispielsweise die Gutschriften oder Rentenzuschläge für ältere, gut situierte Personen mit Kindern mitfinanzieren.» Es wäre nur eine neue problematische Quersubventionierung.
Erziehungs- und Betreuungsgutschriften im BVG sind übrigens keine neue Idee: Die Freiburger SP-Nationalrätin Valérie Piller Carrard verlangte dies bereits im März 2019 mit dem Postulat 19.3268. Es wurde zwei Jahre später zurückgezogen.
Ebenfalls im Jahr 2019 verlangte Brigitte Crottaz mit der Motion 19.3803 einen Finanzierungsmechanismus, um die fehlenden Beiträge auszugleichen, die bei Mutterschaft mit der Reduzierung oder der Aufgabe der Erwerbstätigkeit entstehen. Die Motion der Waadtländer SP-Nationalrätin, von Beruf Ärztin, wurde im Juni 2021 abgeschrieben, weil sie im Rat nicht fristgerecht behandelt werden konnte.
Eher Aussicht auf Erfolg hat die Motion 24.3921 von Flavia Wasserfallen. Die Berner SP-Ständerätin will Mehrfachbeschäftigte und Teilzeitarbeitende besser versichern. Obschon erst vor zwei Monaten eingereicht, war die Motion in der ersten Sessionswoche im Ständerat bereits traktandiert. Das gleiche gilt für die oben genannte Motion 24.3920 von Mathilde Crevoisier Crelier zur Einführung von Erziehungs- und Betreuungsgutschriften wie auch für die Motion 24.4047 des Waadtländer Ständerats Pascal Broulis, der die Eintrittsschwelle auf unter 20'000 Franken senken will. Der Freisinnige Broulis reichte seine Motion am 26. September 2024 ein. Im Gegensatz zu den genannten Motionärinnen wartete er immerhin das Abstimmungsergebnis zur BVG-Revision ab.
Wenn eine Motion traktandiert ist, heisst das nicht, dass sie auch beraten wird. Häufig fehlt dazu die Zeit, wenn vorangehende Traktanden mehr Zeit in Anspruch nehmen als geplant. So fielen die drei genannten Motionen zum BVG der Zeit zum Opfer. Sie werden daher erst in der Frühjahrssession 2025 beraten. Zeit blieb aber am Mittwochmorgen vom 4. Dezember, um den Ordnungsantrag der Grünen Maya Graf zu behandeln. Die Baselbieterin will die drei Motionen an die zuständige Kommission zur Vorprüfung zuweisen. Der Antrag wurde mit nur einer Stimme Differenz abgelehnt.
In der Diskussion darüber zeigte Mitte-Ständerätin Brigitte Häberli-Koller ihr Befremden über das Vorgehen der Motionärinnen. «Ich bin erstaunt, dass Frau Wasserfallen vermutet hat, man könne so kurz nach der Abstimmung vom September 2024 (...) persönliche Vorstösse mit aus ihrer Sicht unbestrittenen Teilen aufs Tapet bringen.» Wer wolle denn wissen, was bestritten und was unbestritten ist? «Nicht zuletzt ihre Seite hat die Vorlage leider zum Absturz gebracht. Der Volksentscheid ist noch nicht einmal ein halbes Jahr her», kritisiert die Thurgauerin Brigitte Häberli-Koller. «Für mich gelten die demokratischen Regeln in diesem Land.» Die Stimmbevölkerung habe klar mitgeteilt, dass sie die BVG-Revision nicht wolle, «was ich sehr bedaure, aber vollumfänglich akzeptiere.»
Ernstzunehmende Kommentatoren sind sich einig: Die gescheiterte BVG-Revision ist auch deren Komplexität geschuldet. Ein Glück, dass der Souverän nicht auch über Art. 46 BVV 2 zu befinden hat.
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Erziehungs- und Betreuungsgutschriften passen nicht ins BVG